Was ist die Quelle des Leidens des Menschen?

Sri Chinmoy: Wenn wir tief in uns gehen, sehen wir, dass es das begrenzte „Ich“ ist, das Ego, das leidet. Das unbegrenzte „Ich“ leidet nicht. Derjenige, der die Wirklichkeit binden will, leidet. Aber derjenige, der die Wirklichkeit in sich befreien will, wird nicht leiden.
Zudem müssen wir wissen, dass das, was wir Leiden nennen, in Gottes Augen keineswegs Leiden ist. Es ist eine Erfahrung, die Er in uns und durch uns macht. Wenn wir nicht in Gottes Bewusstsein bleiben, dann werden wir natürlich leiden, wenn wir Kopfweh haben. Doch wenn wir in Gottes Bewusstsein leben, erhalten wir riesige Freude, ganz gleich was für eine Krankheit wir haben, selbst wenn es eine tödliche Krankheit ist, weil wir eins mit Gottes Willen sind. In der Hingabe an Seinen Willen liegt ständige Freude. Aber wenn wir von Seinem Willen getrennt sind, ist das Gefühl des Getrenntseins das Leiden selbst, ganz gleich was wir haben.
Leiden ist nicht nur das Gefühl, dass etwas falsch ist oder dass wir etwas verloren haben oder dass wir in unserem Leben etwas Unliebsames erfahren haben. Nein! Wirkliches Leiden liegt in unserem bewussten Gefühl des Getrenntseins von Gott. Das Leiden eines Suchers ist sein Gefühl des Getrenntseins von Gott, vom Licht. Ein Sucher, der sich Gottes Willen hingegeben und Einssein mit Gott errichtet hat, leidet nicht. Was immer in seinem Leben auch geschieht, er fühlt, dass sein Geliebter eine Erfahrung in ihm und durch ihn macht.
Leiden ist eine Erfahrung, die Gott in und durch uns macht. Leiden ist die Folge unseres begrenzten Bewusstseins. Wenn unbegrenztes Bewusstsein wirkt, sehen wir als Resultat Freude und Wonne. Gottes unbegrenztes Bewusstsein ist alldurchdringend. Aber gegenwärtig befinden wir uns hier in der Endlichkeit. Wenn wir in der Endlichkeit etwas erreichen, sind wir nicht zufrieden. Wenn wir jedoch in der Unendlichkeit etwas erreichen, sind wir zufrieden. Wenn jemand fünf Dollar besitzt, will er zehn Dollar verdienen. Seine fünf Dollar befriedigen ihn nicht; er leidet, er ist begrenzt. Er sieht, dass sein Freund zehn Dollar besitzt, während er selbst nur fünf Dollar hat. Er leidet innerlich, weil er zehn Dollar haben will. Wenn er schließlich zehn Dollar besitzt, sieht er, dass jemand anderes zwanzig Dollar sein eigen nennt. Wieder leidet er innerlich und beginnt, sich den Kopf zu zerbrechen, wie er zwanzig Dollar verdienen kann.
Im Endlichen wird es immer Leiden geben, weil wir versuchen zu wetteifern, zu raffen, zu besitzen. Aber im Unendlichen gibt es kein Leiden, weil wir ins universelle Bewusstsein eintreten. Dort ist unser Wille und der universelle Wille derselbe. Unser eigener Wille wird völlig und untrennbar eins mit dem, was der universelle Wille von der Erde verlangt, und es gibt kein Leiden mehr. Aber gegenwärtig versuchen wir, die Welt mit unserem begrenzten Bewusstsein zufrieden zu stellen, und auch die Welt will uns mit ihrem begrenzten Bewusstsein zufrieden stellen. Wir begrenzen andere, und wir selbst sind begrenzt. Unsere hauptsächliche Erfahrung auf dieser Welt ist die Erfahrung des Begrenztseins, und das ist der Grund unseres Leidens.
Vom höchsten Gesichtspunkt aus verkörpert Gott sowohl das begrenzte als auch das unbegrenzte Bewusstsein. Er ist das winzigste Insekt und gleichzeitig ist Er der unermessliche Kosmos. Er ist kleiner als das Kleinste und größer als das Größte. Anor aniyan mahato mahiyan... Er ist entfernter als das Entfernteste und näher als das Nächste. Er ist näher als das Nächste für wen? Für den Sucher. Er ist entfernter als das Entfernteste von wem? Vom Nicht-Sucher. Für jene, die im Vergnügen der Unwissenheit schwelgen, ist Gott entfernter als das Entfernteste. Natürlich leiden jene Menschen. Aber für die Sucher ist Gott näher als das Nächste. Wenn ein Sucher zu Gott betet und auf Gott meditiert, fühlt er, dass er Gottes liebstes Kind ist. Wenn er zu Gott betet, fühlt er, dass Gott der Allwissende da ist und ihm zuhört. Wenn er auf Gott meditiert, fühlt er, dass Gott zu ihm spricht und dass er Gott zuhört. Wenn er Gott zuhört und Gott ihm zuhört, dann kann es kein Leiden geben. Das ist die Wahrheit, die der Sucher von seinem spirituellen Leben lernt. Wer jedoch nicht strebt, muss die ganze Zeit in einem begrenzten Bewusstsein bleiben. Im begrenzten Bewusstsein gibt es natürlich viel Leiden.

Aus dem Buch: Glücklichsein