Avatare
Nahm Shiva je einen physischen Körper an?
Sri Chinmoy: Nein, anders als Krishna war Shiva nie im physischen Körper. Er blieb im subtilen Physischen und weilte im Himalaya. Christus war im Physischen, Buddha war im Physischen, doch Shiva war immer im subtilen Physischen. Im subtilen Physischen war Shiva eine wirkliche Wirklichkeit.
Wer war der erste Mensch, der Gott verwirklichte?
Sri Chinmoy: Das ist in Vergessenheit geraten. Gemäß unserer indischen Tradition war es Ramachandra. Doch der Name des allerersten Menschen, der Gott verwirklichte, ist in der Weltgeschichte nicht registriert. Ich kann es also nicht sagen; das würde nur den Anstoß zu einer großen Auseinandersetzung geben.
Wie siehst du die Wiedergeburt?
Sri Chinmoy: Wiedergeburt ist für normale Menschen notwendig, jedoch nicht für gottverwirklichte Seelen. Doch wenn es der Wille des Supreme ist, dass ich eine weitere Geburt annehme, dann werde ich wiederkommen. Eine gottverwirklichte Seele kann immer in der höchsten Glückseligkeit verbleiben. Doch die höchste Art von Glückseligkeit ist auch, dem Supreme und der Menschheit zu dienen. Buddha interessierte sich nicht für diese Art von Dienst. Er riet seinen Anhängern im Nirvana zu bleiben. Es gibt bereits Hunderte von Seelen, die ins Nirvana eingetreten sind und nicht mehr herabkommen. Sie haben das Gefühl, die Welt hätte ihnen genügend schlechte Erfahrungen gegeben. Diese Erfahrungen sind mehr als genug für sie und sie wollen nicht mehr zurückkommen. Jene, die strikt dem Weg Buddhas folgen und ihr höchstes Ziel erreichen, sind nicht zur Wiedergeburt bestimmt. Sie werden nicht in die Welt zurückkommen und keine weiteren Leiden der Welt auf sich nehmen. Buddha wollte immer in vollkommener Glückseligkeit verbleiben. Die Umwandlung der physischen Natur interessierte ihn nicht. Er hatte das Gefühl, dass man in der Glückseligkeit verbleiben sollte, wenn man einmal aus dem Kreis des menschlichen Leidens ausbrechen konnte. Doch die hinduistische Philosophie besagt, dass man arbeiten solle, um das Leiden der Menschheit zu verwandeln. Buddhas Herz war weiter als das Universum. Er schrie nach dem Ende allen menschlichen Leidens, doch seine Weisheit führte ihn einen anderen Weg. Wenn man diesem Weg folgt, kommt man nicht mehr in diese Welt zurück, sobald man einmal die Befreiung erlangt hat. Es gibt noch ein anderes Nirvana, das höher ist als das Nirvana, das Buddha verwirklichte. In seinen späteren Jahren sagte Buddha einmal, dass er das höchste Nirvana solange nicht möchte, bis alle menschlichen Wesen befreit seien. Doch dann trat er in sein eigenes Nirvana ein und kam nicht mehr auf die Erde zurück. Nach Ansicht der großen indischen spirituellen Meister war Buddha der vollkommenste Mensch, der je auf Erden gelebt hat. Auch Ramakrishna und Vivekananda sagten, dass Buddha der vollkommenste Mensch auf der Erde gewesen sei.
Man sagt, dass in diesem Zeitalter der göttliche Avatar Christus wieder erscheinen wird. Ist das wahr?
Sri Chinmoy: Es ist eine Frage des inneren Glaubens. Der wirkliche Christus wird jeden Tag in unserem Bewusstsein geboren. Der wirkliche Christus ist der Christus, der unsterblich ist, nicht der Christus, der dreiunddreißig Jahre lang gelebt hat. Der menschliche Christus, der Sohn des Zimmermanns, lebte dreiunddreißig Jahre lang auf der Erde, doch der göttliche Christus, der Gott verwirklichte, der eins mit Gott wurde, der Gott auf der Erde vertrat und heute noch vertritt, ist immer noch am Leben und wird gleichzeitig jeden Tag im menschlichen Herzen neu geboren.
Was ereignete sich in dem Lebensabschnitt von Jesus, über den nichts in der Bibel steht?
Sri Chinmoy: Christus ging nach Indien, wo er von indischen Meistern unterrichtet wurde. Doch er nahm dort keinen eigentlichen Guru an; sein Guru war Johannes der Täufer. Er wurde getauft und erhielt von ihm die Initiation (Einweihung). Als sein Vater starb, weilte er gerade in Kashmir. Er kam nach Palästina zurück. In Indien findet man heute noch Talismane, die Jesus gebraucht hatte.
Ich bin der Überzeugung, dass es nur einen Heiland gibt und das ist Jesus Christus. Wie kann man deine Überzeugung mit meiner in Einklang bringen?
Sri Chinmoy: Einverstanden. Dein Heiland ist eine große Persönlichkeit. Da er eine große Persönlichkeit ist, hat er natürlich auch Diener. Sagen wir, ich sei sein Diener. Du weißt nicht, wo dieser große Mensch lebt oder wie du dich ihm nähern sollst, doch ich weiß es. Obwohl ich möglicherweise nur sein Diener bin, weiß ich, wo der Meister lebt und was er tut und ich kann dich zu ihm bringen. Ohne meine oder die Hilfe eines anderen Dieners kannst du nicht zum Meister gelangen. Glaubst du, du musst einfach nur an die Türe klopfen und der Meister kommt selbst, um dir zu öffnen? Nein, bevor du keine äußerst starke innere Beziehung zu ihm hast, wird dir der Meister keine Antwort geben. Doch ich werde zur Türe kommen. Ich werde dich betrachten und wenn ich mit deiner Aufrichtigkeit und deinem inneren Streben unzufrieden bin, dann weiß ich, dass mein Chef nicht daran interessiert ist, dich zu sehen. Doch wenn du den Diener zufriedenstellst, dann werde ich dem Chef sagen, dass eine sehr angenehme Person ihn sehen möchte. Weil du mir gefällst, wird er natürlich sagen: "Gut, lass mich diesen Menschen sehen, von dem du sprichst." Also werde ich dich zu ihm bringen und damit ist meine Rolle vorbei. Doch was geschieht, wenn dieser große Mann – Christus – dich dann ausschimpft? Wenn ich dich zu ihm bringe, sagt er möglicherweise zu dir: "Du Narr, vor zweitausend Jahren hatte ich einen Namen, eine Form. Glaubst du, dass ich mit demselben Namen und derselben Form ewig weiterleben werde? Vor zweitausend Jahren kam ich in einen Körper, in ein Bewusstsein. Glaubst du denn, dass ich mich nicht verändern kann? Du wechselst deinen Körper immer wieder, alle paar Jahre wechselst du deine Wohnung. Du brauchst Veränderungen. Habe ich kein Recht mich zu verändern? Soll ich zweitausend Jahre lang in derselben Form, in demselben Körper, mit demselben Namen, Aussehen und Bewusstsein verbleiben? Ich sollte und muss mich ändern, denn das bedeutet Fortschritt. Ich habe meinen Körper, meinen Namen geändert. Deine Seele weiß, dass dieser Mensch, der sich selbst mein Diener nennt, mich hier auf der Erde vertritt. Der Name ist vielleicht anders, die Form ist anders, selbst das Bewusstsein ist anders, doch die Quelle ist dieselbe und die Fähigkeit ist dieselbe. Er repräsentiert meine Wirklichkeit auf der Erde. Warum musst du also meine Aufgabe noch schwieriger machen, indem du versuchst, dich mir im Himmel zu nähern, während du dich leicht meinem Bruder nähern könntest, der auf der Erde weilt? In ihm kannst du mich finden."
Haben alle Seelen Hunderte oder Tausende von Inkarnationen, bevor sie sich verwirklichen?
Sri Chinmoy: Ja, nur Avatare gehen nicht durch so viele Inkarnationen. Doch es gibt selbst unter den spirituellen Meistern einige Ausnahmen. Betrachtet nur Buddha! Er ging durch so viele tierische und menschliche Inkarnationen. Doch andere spirituelle Meister gingen nicht durch so viele Inkarnationen, sie wollten sich dieser Welt nicht so viele Male erfreuen.
Wie können wir herausfinden, ob Christus, Ramakrishna und Gott sich alle im gleichen Bewusstsein befinden?
Sri Chinmoy: Es ist überhaupt nicht notwendig, hier irgendeine Unterscheidung zu treffen. Sie sind von verschiedenen Seiten gekommen, sind aber alle eins. Sie sind alle Gottes Kinder in verschiedenen Formen. In dieser Inkarnation hast du einen Namen, in deiner vorhergehenden Inkarnation hattest du einen anderen Namen. Selbst in dieser Inkarnation nennt dich deine Mutter bei einem Namen, dein Mann bei einem anderen und deine Kinder rufen dich wiederum anders. Trotzdem bist du dieselbe Person. Der universelle Geist ist eins, doch die Formen sind verschieden. Gott ist der universelle Geist, doch Er nimmt verschiedene Formen an. Christus nahm einen menschlichen Körper, eine menschliche Form an. Buddha, Sri Ramakrishna, Sri Krishna – sie alle haben eine menschliche Form angenommen. Wenn eine Seele in einen Körper eintritt, muss diese Seele ihre innere Göttlichkeit offenbaren. Die großen spirituellen Meister haben dies bereits offenbart, während ihr es noch offenbaren müsst. Im Geiste sind wir also alle eins, doch in der äußeren Form sind wir viele geworden. So geht das göttliche Spiel vor sich.
Welche Kriterien gibt es, um einen Avatar zu erkennen?
Sri Chinmoy: Als Vivekananda einmal Ostbengalen besuchte, kamen viele Schüler anderer Meister zu ihm. Sie baten ihn, ihren Meister, den sie als Avatar betrachteten, zu besuchen. Sie sagten: "Bitte komm und besuche meinen Guru. Er ist zweifellos ein Avatar." Einen Augenblick später sagte ein anderer: "Mein Guru ist ein Avatar. Ich weiß es. Komm bitte und besuche ihn." Deshalb sagte Vivekananda, in Ostbengalen würden Avatare wie Pilze aus dem Boden schießen. Leider wird das Wort Avatar in der westlichen Welt nicht verstanden. Es wird viele Jahre, vielleicht sogar Jahrhunderte brauchen, bevor man das Wort Avatar verstehen wird. Vergebt mir, wenn ich so offen bin. Es gibt viele Worte, die sehr bedeutend und wichtig sind, die aber im spirituellen Bewusstsein so schwierig sind, dass ein gewöhnlicher Mensch sie nie verstehen wird. Das Wort Avatar ist eines dieser Worte, vielleicht das schwierigste aller Worte. Ihr wisst, wie man es buchstabiert, doch um die höchste Natur eines Avatars zu erkennen, muss man fast ein spiritueller Heiliger werden. Der Unterschied zwischen einem Yogi und einem Avatar ist wie der Unterschied zwischen einem Kind und einem reifen Erwachsenen. Um auch nur die geringste Ahnung davon zu erhalten, was ein Avatar verkörpert, muss man ein sehr hohes spirituelles Bewusstseinsniveau besitzen. Sri Krishna war ein Avatar, doch nur fünf Menschen erkannten ihn. Sri Ramakrishna war ein Avatar, aber sehr wenige erkannten ihn. Christus war ein Avatar, doch nur wenige Menschen erkannten ihn. Selbst diese Avatare befinden sich nicht auf demselben Niveau. Wenn jemand einige Zentimeter unter oder über euch ist, könnt ihr das erkennen. Einen Weisen, einen Heiligen, selbst einen Yogi könnt ihr erkennen. Doch ein Yogi ist unendlich viel mehr als ein Weiser oder ein Heiliger. Ein Yogi ist jemand, der mit dem Höchsten vereint ist. Ein Avatar wiederum ist eine direkte Verkörperung Gottes, ein inkarnierter Teil Gottes, der ständig zugleich im Höchsten und im Niedersten wirkt. Die Yogis halten sich auf einem bestimmten hohen Niveau auf und wirken dort. Wenn sie von diesem Niveau herabkommen, um die Menschheit emporzuheben, fällt es ihnen sehr schwer, wirkungsvoll zu handeln. Oft verfangen sie sich in den niederen Ebenen und sind dann verloren. Gewöhnlich halten sie sich auf einem bestimmten Bewusstseinsniveau auf und wenn es Suchern gelingt, dieses Niveau zu erreichen, können sie ihnen helfen. Ein Avatar hingegen kann zugleich im Höchsten und Niedersten bleiben und selbst wenn er auf der niedersten Ebene arbeitet, wird er von ihr nicht beeinträchtigt. Ein Avatar ist ein Mensch. Er spricht, isst und hat Humor. Wenn ein Avatar ins Höchste eintritt, geht er weit über die Reichweite unserer Vision hinaus. Falls ihr je auch nur den kleinsten Schimmer der höheren Welt erhaltet, zu denen ein Avatar freien Zutritt hat, werdet ihr fühlen, dass euer gesamtes Leben Gegenstand vollständiger Hingabe zu Füßen eures Meisters wird. Selbst wenn der Meister euch einen Tritt gibt oder euch aus seinem Center wirft, werdet ihr ihm treu bleiben, denn ihr habt von ihm etwas erhalten, das ihr von niemandem sonst auf der Erde erhalten könnt. Wenn ein Avatar auf der Erde ist, verkörpert er das Bewusstsein aller anderen Avatare, die auf die Welt gekommen sind. Als Sri Ramakrishna auf seinem Sterbebett lag und sein liebster Schüler, Vivekananda, selbst in diesem letzten Augenblick noch an ihm zweifelte, sagte Sri Ramakrishna: "Derjenige, der Rama war und derjenige, der Krishna war, ist nun in einer Form Ramakrishna." Im Osten ist es einfacher zu glauben, dass Rama in mir ist, dass Krishna in mir ist, dass Ramakrishna und alle anderen Avatare in mir sind. Im Westen kennen wir leider nur einen Avatar: Christus. Entweder nehmen wir ihn an oder wir lehnen ihn ab. Wenn wir ihn annehmen, gibt es gemäß der kirchlichen Doktrin keinen anderen spirituellen Meister für uns. Wenn wir ihn jedoch ablehnen, werden wir vielleicht auf einen anderen spirituellen Meister aufmerksam. Christus, Buddha, Sri Krishna und alle großen spirituellen Meister kamen von derselben göttlichen Quelle. Wenn wir sagen, Christus sei der einzige Retter, dann wird ein Jünger Krishnas sofort widersprechen: "Nein, Krishna ist der einzige Retter." Hier beginnt das Problem. Wir sollten fühlen, dass der Supreme der einzige Retter ist. Er ist es, der in die Form eintrat, die wir Christus nennen. Er trat in die Gestalt Krishnas, in die Gestalt Ramakrishnas und so weiter ein. Auf diese Weise gehen wir alle zum Supreme. Das letzte Ziel ist der Supreme. Wie wir sind auch Krishna, Buddha und alle Avatare von Ihm gekommen und zu Ihm müssen wir alle gehen.