2 - Kindheit in Chittagong
Kindheit in Chittagong
Sri Chinmoy wurde in Chittagong in Ostbengalen geboren. Er war das jüngste Kind in einer Familie mit vier Jungen und drei Mädchen. Vor seiner Geburt betete zu Lord Krishna, dass sie wie Krishnas Mutter Devaki auch ein besonderes Kind bekommen möge. Und Chinmoys älterer Bruder Chitta träumte mehrfach, dass seine Mutter eine spirituelle Seele höchster Ordnung zur Welt bringen würde. Als Chitta seiner Mutter von seiner Voraussage erzählte, meinte sie: „Vielleicht schickt Lord Krishna einen seiner ganz engen Devotees in unsere einfache, demütige und fromme Familie.“ Chinmoy wurde im dörflichen Haus der Familie geboren. Am selben Tag brannte das Stadthaus seiner Familie bis auf die Grundmauern nieder. Chinmoys Großmutter verfasste daraufhin ein Gedicht im Chittagong-Dialekt:
Ek bhada jar
Ut put tar.
Das bedeutet, dass Bhadra-Menschen, die im Monat August geboren wurden, alles auf den Kopf stellen. Chinmoys Mutter Yogamaya widersprach entschieden. Sie verfasste ihr eigenes Gedicht:
Ek bhada jar
Sonar madal tar.
Das heißt, dass derjenige, der im August geboren ist, ganz gewiss die goldene Trommel schlagen wird, auf der die Kosmischen Götter im Himmel spielen.
Das war der Grund, warum Chinmoy „Madal“ genannt wurde, was „kleine Trommel“ bedeutet.
Yogamayas innerster Wunsch
Eines Tages besuchte Madals Mutter Yogamaya die Vorstellung einer örtlichen Theatergruppe, die ein Schauspiel über das Leben des großen bengalischen Avatars Sri Chaitanya aufführte. An einer Stelle des Stücks vergießt Sri Chaitanyas Mutter Tränen, weil ihr Sohn ein heiliges Gelübde ablegte, der Welt zu entsagen und ein spirituelles Leben zu führen.
Im Publikum wurde Yogamaya von Weinkrämpfen geschüttelt. Chitta versuchte sie zu trösten und sagte: „Mutter, weine doch nicht! Sri Chaitanya war ungehorsam gegen seine Mutter, aber wir werden niemals ungehorsam sein. Wir werden immer bei dir bleiben. Hab’ keine Angst.“
Yogamaya protestierte: „Du verstehst nicht, warum ich weine. Ich weine, weil ich will, dass alle meine Kinder, Söhne wie Töchter, dem spirituellen Pfad folgen. Ich sehne mich danach, dass jeder von euch Gott in diesem Leben verwirklichen kann.“
Das war der innerste Wunsch Yogamayas.
Von den Pocken geheilt
Yogamaya erwiderte: „Mit Gottes Segen und mit meinen Gebeten werde ich es nicht zulassen, dass mein jüngster Sohn stirbt oder blind oder taub wird.“
Yogamaya hatte grenzenloses Vertrauen in ihre Gebete. Und sie wusch Madals Gesicht mit Kokosnusswasser. Nach einer langen Zeit des Leidens wurde Madal schließlich durch die Gebete seiner Mutter und durch Kokosnusswasser gerettet.
Chitta gibt seinem kleinen Bruder einen Namen
1933 besuchte Madals ganze Familie seinen ältesten Bruder Hriday im Sri Aurobindo-Ashram in Pondicherry. Zu dieser Zeit wollte der Sekretär des Ashrams, Nolini Kanta Gupta, Madals wirklichen Namen wissen. Er wusste, dass Madal nur ein Kosename war.
Chitta war ein wenig verwirrt. Er überlegte, welchen Namen er seinem jüngsten Bruder wohl geben könnte. Plötzlich erhielt er eine innere Botschaft. Der Widerhall einer göttlichen Stimme erklang in seinem Herzen: „Chinmoy, Chinmoy.“ Chinmoy bedeutet „erfüllt von göttlichem Bewusstsein, alldurchdringendem Bewusstsein“. Das wurde Madals richtiger Name.
„Ich habe nichts zerbrochen!“
Als Madal heranwuchs, war er süß, gutherzig und liebevoll, aber gleichzeitig auch ein Lausejunge. Wann immer er in der Küche etwas zerbrach, schrie er, noch bevor er überhaupt gefragt wurde, so laut er konnte: „Ich war es nicht!“
„Wer war es dann?“ pflegte Yogamaya zu fragen. Madals Antwort lautete stets: „Ich habe nichts zerbrochen. Meine Hände haben es fallen lassen, nicht ich.“ Dann schenkte er seiner Mutter ein süßes Lächeln und lief fort.
Madals Vater Shashi Kumar Ghosh sagte oft: „Ich bin so glücklich, einen Sohn wie ihn zu haben, der so viel Leben, Energie und Enthusiasmus in unsere Familie bringt. Meine anderen Kinder sind alle Heilige. Sie glauben nicht an Lebensenergie. Doch mein jüngster Sohn ist voller Leben und Enthusiasmus! Er hat so viele dynamische Eigenschaften.“
Knapp dem Tode entronnen
Diese Geschichte ereignete sich, als Madal sieben Jahre alt war. Seine Familie beging gerade die Durga Puja in ihrem Haus. Nachdem eine lebende Ziege geopfert worden war, war es üblich, der Göttin Früchte und Zuckerrohr darzubringen. Das Zuckerrohr wurde ebenfalls auf den Altar gelegt, auf dem die Ziege und die Früchte lagen.
Gerade als der Priester die Gebete vor der Opferung des Zuckerrohrs rezitierte, bemerkte Madal, dass einige seiner Freunde still und heimlich auf die andere Seite des Altars gewechselt waren. Der obere Teil des Zuckerrohrs hat Blätter, die nicht essbar sind, doch das Rohr selbst ist äußerst köstlich. Madals Freunde wollte einen möglichst großen Anteil der schmackhaften Teile erhalten.
Der Priester hatte schon das Schwert mit beiden Händen ergriffen und es über seinen Kopf geschwungen. Genau in dem Augenblick, als er zum ersten Hieb ansetzen wollte, sprang Madal über den Altar auf die andere Seite. Im Bruchteil einer Sekunde konnte der Priester das Schwert noch stoppen.
Alle Anwesenden waren zutiefst erschrocken. Madal war nur um Haaresbreite dem Tod entkommen. Shashi Kumar Ghosh dankte dem Priester überschwänglich. „Du hast das Leben meines Sohnes gerettet“, sagte er. „Erbitte von mir, was immer du willst. Ich werde dir deinen Wunsch hier und jetzt erfüllen.“ Der Priester zitterte noch immer. Er antwortete: „Wunsch? Welchen Wunsch könnte ich haben? Ich habe den liebsten Sohn meines Mentors gerettet!“
Der Priester zitterte noch immer. Er antwortete: „Wunsch? Welchen Wunsch könnte ich haben? Ich habe den liebsten Sohn meines Mentors gerettet!“
Mit dem Bankboten mitfahren
Shashi Kumar Ghosh war Chefinspektor der Eisenbahnlinie zwischen Assam und Bengalen. Als er diese Position aufgab, eröffnete er seine eigene Bank in Chittagong. Die Wochentage verbrachte er gewöhnlich in der Bank. Am Freitagabend kehrte er dann mit einer Fähre auf dem Karnaphuli-Fluss nach Hause zurück.
Am Montagmorgen sah Madal gewöhnlich, wie sein Vater um den Segen der Familiengottheit bat und sich dann zu Fuß zu einer kleinen Anlegestelle aufmachte, um die Fähre zurück zur Stadt zu nehmen. Madal wollte immer mit seinem Vater gehen. Oft folgte er seinem Vater heimlich in der Hoffnung, ihn begleiten zu dürfen. Shashi Kumar Ghosh pflegte zu sagen: „Wie kann ich dich jedes Mal mitnehmen? Du musst doch lernen!“
Yogamaya wollte auch, dass Madal lernte, doch er war der verwöhnte Liebling der Familie. So sandte sie einfach einen Diener mit frischen Kleidern, damit Madal etwas zum Anziehen hatte, wenn er in der Stadt blieb.
Wenn Madal in der Stadt war, pflegte er seine Zeit damit zu verbringen, mit den Bankboten hinten auf ihren Fahrrädern mitzufahren. Er liebte es auch, den Gerichtshof in Chittagong zu besuchen.
Die Augen des Tigers
Einmal, als Madal schon zehn Jahre alt war, übernachtete er einige Tage bei seinem Onkel mütterlicherseits im Dorf Kelishahar. Es lag ungefähr zehn Kilometer von seinem eigenen Dorf Ost- Shakpura entfernt. Kelishahar ist von kleinen Hügeln umgeben, und Madal liebte es, in diesen Bergen alleine umherzustrolchen.
Eines Tages kam Madal an eine Stelle, an der viele Jujube- Bäume standen. Er kletterte auf einen der Bäume und begann Jujube-Früchte zu essen, soviel sein Herz begehrte.
Als er wieder herabkam, sah er einen riesigen Tiger vor sich stehen. Doch als er in die Augen des Tigers sah, erblickte er darin die Augen seiner eigenen Mutter. Je mehr er in die Augen des Tigers sah, desto stärker fühlte er die Liebe und Zuneigung seiner Mutter von dem Tier kommen. Das nahm ihm all seine Furcht.
Nach fünf Minuten drehte sich Madal um und begann langsam in Richtung des Hauses seiner Tante zu gehen. Nachdem er vielleicht knapp einen halben Kilometer zurückgelegt hatte, blickte er sich um, um zu sehen, ob der Tiger ihm folgte. Zu seinem Erstaunen stellte Madal fest, dass der Tiger nirgends mehr zu sehen war.
Sofort nahm er die Beine in die Hand und rannte um sein Leben. Dabei schrie er: „Ich habe einen Tiger gesehen! Ich habe einen Tiger gesehen!“
Etwas später traf unerwartet Yogamaya ein. Während sie sich am Nachmittag zuhause etwas ausgeruht hatte, hatte sie in einem Traum gesehen, wie Madal von einem Tiger angegriffen und getötet wurde. Halb wahnsinnig vor Sorge und Trauer eilte sie zum Haus ihres Bruders. Als sie sah, dass Madal lebte und in Sicherheit war, vergoss sie viele, viele Tränen der Freude.
Yogamayas Scheiden
Madals Vater Shashi Kumar Ghosh segnete das Zeitliche, als Madal erst elfeinhalb Jahre alt war. Auch Yogamaya war sehr krank, und einige Monate später war auch sie ihrem Ende nahe.
Am Tag ihres Hinscheidens war Madal wieder beim seinem Onkel mütterlicherseits, zehn Kilometer weit entfernt. Am Morgen jenes Tages sagte Yogamaya: „Heute werde ich meinen Körper verlassen. Wo ist Madal? Lasst ihn holen!“ Einer seiner Cousins überbrachte Madal die Botschaft.
Sobald er die Nachricht erhielt, begann Madal zu laufen. Tränen strömten aus seinen Augen, weil er Angst hatte, nicht mehr rechtzeitig zu kommen, um von seiner Mutter Abschied zu nehmen. Schließlich erreichte er sein Zuhause und eilte in ihr Zimmer. Das Leben seiner Mutter konnte in Minuten gemessen werden. Sie war nicht in der Lage zu sprechen, doch sobald Madal an ihre Seite trat, nahm sie sehr sanft seine rechte Hand und legte sie in die Hand seines ältesten Bruders. Damit trug sie Madals ältestem Bruder Hriday auf, die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.
Hriday sagte: „Ja, ich werde die Verantwortung für ihn tragen.“ Dann schenkte Yogamaya Madal ein Lächeln, ihr letztes Lächeln, und einige Sekunden später verschied sie. Es war gegen drei Uhr nachmittags.
Als in dieser Nacht die Lampen gelöscht wurden, war es stockdunkel im Haus. Madal war allein in seinem Zimmer. Plötzlich wurde der Raum von Licht durchflutet, und Madal sah die Seele seiner Mutter. Er wusste zu dieser Zeit nicht, was die Seele ist, doch er sah deutlich, dass seine Mutter ihn segnete und ihm ihre tiefste Liebe und Zuneigung zeigte. Sie sagte zu Madal: „Sorge dich nicht. Alles wird gut sein. Von jetzt an werde ich dir auf eineandere Weise helfen und dich segnen. Bald wirst du in den Sri Aurobindo-Ashram eintreten. Dort wird die Göttliche Mutter für dich sorgen.“